Freitag, 21 Januar 2022 12:55

Meinung: Was uns Atomenergie wirklich kostet Empfehlung

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Die 2600-Quadratkilometer-Sperrzone rund um das AKW Tschernobyl bleibt auf unabsehbare Zeit radioaktiv verseucht Die 2600-Quadratkilometer-Sperrzone rund um das AKW Tschernobyl bleibt auf unabsehbare Zeit radioaktiv verseucht Volodymyr Tarasov/Avalon/Photoshot/picture alliance

DW-Autorin Jeannette Cwienk

Ich erinnere mich noch genau daran, wie viel Spaß wir hatten, an diesem Frühlingsnachmittag im April. Ich baute mit meinen Freundinnen und Freunden im Wald eine Hütte, bis uns Regenschauer nach Hause trieben. Es war der April 1986 - kurz nachdem im ukrainischen Prypjat Reaktorblock 4 des sowjetischen Atomkraftwerks Tschernobyl explodiert war. Da die Nachricht über die Katastrophe erst Tage später an die Öffentlichkeit drang, hatten wir noch nichtsahnend im Wald gespielt.

Die Katastrophe von Tschernobyl und die Sorge vor einer verstrahlten Zukunft prägten meine Jugend. Aber nicht nur deswegen erscheint mir der Vorschlag der EU-Kommission, nicht nur Gas, sondern auch Atomkraft als klimafreundliche Technologie in ihre Taxonomie aufzunehmen, also als nachhaltige und förderwürdige Wirtschaftsaktivität zu klassifizieren und für Investitionen zu empfehlen, wie ein Hohn.

Wer zahlt für einen Atomunfall?

Das ist der Kommissions-Vorschlag auch deswegen, weil er die wahren Kosten der Atomkraft völlig ignoriert: zum einen mit Blick auf die hohen Kosten für neue Atomanlagen, so klein künftige Reaktoren auch sein mögen. Zum anderen aber vor allem in Bezug auf die völlig außer Acht gelassene Frage: Wer haftet eigentlich bei einem Nuklearunfall?

Allein in Deutschland belaufen sich die staatlichen Ausgaben für die Folgen der Tschernobyl-Katastrophe bis heute auf rund eine Milliarde Euro. Die unmittelbaren wirtschaftlichen Schäden durch den Atomunfall von Tschernobyl werden auf mehr als 200 Milliarden Euro geschätzt - Folgeschäden wie Erkrankungen sind dabei nicht eingerechnet. Diese fehlen auch in der Summe von rund 177 Milliarden Euro, auf die sich die Kosten für den Atomunfall vom 11. März 2011 im japanischen Fukushima allein bis zum Jahr 2017 beliefen - laut damaliger Schätzung der japanischen Regierung.

Getragen werden diese Kosten zum Großteil von den Steuerzahlern Japans, denn die Betreibergesellschaft Tepco wurde ein Jahr nach der Katastrophe de facto verstaatlicht, um eine Insolvenz zu verhindern.

Staatshaftung im Katastrophenfall

Und hier sind wir beim Kern des Problems: Die Haftungssummen für nukleare Unfälle sind in Europa lächerlich gering. So müssen etwa die Kraftwerksbetreiber in Tschechien gerade einmal 74 Millionen Euro für einen atomaren Unfall bereithalten, in Ungarn sind es 127 Millionen.

Auch Frankreich, maßgeblicher Antreiber für eine geplante "Begrünung" der Atomkraft in der EU und mit 70 Prozent Nuklearstromanteil weltweit am stärksten abhängig von seinen Reaktoren, verlangt seinen Stromversorgern bei einem Nuklearunfall höchstens 700 Millionen Euro Haftungssumme ab. Ein großer atomarer Unfall in Europa könnte aber locker Kosten zwischen 100 bis 430 Milliarden Euro verursachen. Sollte der tatsächlich passieren, müssten abermals die betroffenen Staaten und damit deren Steuerzahler einspringen.

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Wegen dieser faktischen Staatshaftung kritisierte kürzlich selbst der Chef der deutschen Liberalen und Bundesfinanzminister Christian Lindner die Aufnahme der Atomkraft in die EU-Taxonomie. "Eine Energiequelle, die nur etabliert werden kann, wenn der Staat in die Haftung geht, die zeigt schon marktwirtschaftlich an, dass es sich nicht um eine nachhaltig verantwortbare Energiequelle handeln kann", so Lindner. 

Und so wird die deutsche Bundesregierung an diesem Freitag also vermutlich gegen die Pläne der EU-Kommission stimmen - zurecht. Mutiger sind dagegen Österreich und Luxemburg, die eine Klage gegen ein Nachhaltigkeitssiegel für Atomkraft angekündigt haben.

Die Risiken von "Mini-Reaktoren"

In Frankreich dagegen bezeichnet Staatspräsident Emmanuel Macron die Atomkraft gerne als "Glücksfall" für den Klimaschutz. Dass derzeit zehn Reaktoren im Land abgeschaltet bleiben müssen, drei der neuesten Generation davon aus Sicherheitsmängeln, stört das Glücksempfinden des Präsidenten offenbar wenig. Sorgen vor einem Atom-GAU und dessen Folgen will Macron mit neuen Mini-Reaktoren, sogenannten "Small Modular Reactors" (SMR), zerstreuen. Sie sollen erheblich kleiner sein als bisherige Atomreaktoren - und dementsprechend weniger gefährlich, käme es zu einem Unfall.

Doch diese Rechnung enthält einen Mengenfehler. Denn um auf die Kapazität eines großen Meilers zu kommen, ist eine enorme Zahl an kleinen Reaktoren nötig. "Diese hohe Anzahl wird das Risiko für nukleare Unfälle um ein Vielfaches erhöhen", mahnte etwa das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung.

Geht es wirklich um Klimaschutz?

Ebenfalls scharf ins Gericht geht die Behörde mit dem Bericht des Joint Research Center der EU. Auf dessen Grundlage traf die Kommission in Brüssel ihre Bewertung über die Klimafreundlichkeit ziviler Atomkraft.

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Der JRC-Bericht betrachte die Risiken der Kernenergienutzung für Mensch und Umwelt sowie für nachfolgende Generationen nur unvollständig. Er sei, so das Fazit, daher kein Beitrag, mit dem die Nachhaltigkeit der Kernenergienutzung umfassend bewertet werden könne.

Das lässt Zweifel aufkommen, dass Brüssel die Atomkraft vor allem aus Klimaschutzgründen in die neue EU-Taxonomie aufnehmen will. Vielmehr scheint politischer Druck dahinterzustehen, vor allem aus Frankreich. Dass man hier als Nuklearmacht auf jeden Fall an der Atomkraft festhalten will, hatte Emmanuel Macron zuletzt ganz offen erklärt. "Ohne zivile Atomkraft keine militärische Atomkraft und ohne militärische Atomkraft keine zivile", sagte der Staatspräsident erst im Dezember.

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  • Verfasser: Jeannette Cwienk
Gelesen 5913 mal Letzte Änderung am Freitag, 21 Januar 2022 13:57